Auszug aus Kapitel “Zwischen Gestern und Morgen”

Zweckmäßig heißt, dass es für die Fledermaus wichtig ist, einen Falter zu erwischen, und für diesen, nicht gefressen werden. Der Schmetterling hat nichts davon, die Farbenpracht einer Blumenwiese zu bewundern. Im Gegenteil! Diejenigen, die die Welt bestaunen, laufen Gefahr an Unterernährung zu sterben oder von einem Fressfeind aus ihrer Andacht ins Jenseits befördert zu werden. Ohnehin nimmt der kleine Gaukler die Farben der Wiese kaum wahr.«

»Ich dachte, die Farben der Blumen dienen dazu, ihn anzulocken?«

»Nicht die Farben, sondern Signale. Die sind umso besser, je klarer sie erkennbar sind. Der Startschuss zum Wettlauf ist weit eindeutiger als eine wohlgesetzte Rede des Starters, in der er dazu auffordert, mal loszurennen.

Tatsächlich sieht der Schmetterling die Blumenwiese ziemlich grau in grau, doch gleichsam mit eingebetteten Leuchtmarkierungen seiner Wirtspflanzen. Darauf fliegt er zu, setzt sich auf das Ding, schmeckt die Nahrung mit den Füßen …«

»Hast du Füße gesagt?«

»Ja, daran hat er Geschmackszellen zum Vorkosten. Sonst müsste er unnütze Versuchsbohrungen mit seinem Rüssel machen. In dieser Körperhaltung ist er aber besonders gefährdet.«

»Echt geil! Aber denk an die Zeit!«

»Zeit kann man nur denken. Sie ist, wie gesagt, kein Ding und keine Eigenschaft, sondern die Ordnung wahrgenommener Bewegungen oder Veränderungen der Dinge.«

»Ich nehm’s für wahr. Aber komm endlich zur Zukunft.«

»Die Zukunft ist vielleicht nicht so endlich, wie du sagst.«

»Oh nein; nicht schon wieder Wortspiele! Erkläre bitte, wie sie erfunden wurde.«

»Also: Unser Schmetterling – sagen wir, ein Schillerfalter namens Uri, fliegt auf ein Häufchen Kot zu.«

»Kot? Wie unappetitlich! Auf eine schöne Blume bitte!«

»Von Blumen hält er aber nichts. Denn der herrlich blau schimmernde Falter ernährt sich nicht von Nektar, sondern saugt Mineralien aus Exkrementen und Aas. Auf eine solche Nahrungsquelle flattert er zu schon später Stunde mit großem Appetit zu und wird dabei von einer früh erwachten Eule geortet.«

»Ich ahne schon, was kommt.«

»Was kommt, ist Zukunft, und auch der Vogel ahnt sie. Er verfügt nach Millionen Jahren der Entwicklung des Lebens über hervorragende Sinnesorgane und einen leistungsstarken Datenspeicher im Kopf. Dieser arbeitet weiterhin nach dem Perlenkettenprinzip: Jeder aktuelle Eindruck schiebt den vorherigen eine Position weiter nach hinten, immer mehr in das hinein, was wir Vergangenheit nennen. Das hat sich inzwischen als äußerst nützlich erwiesen, denn es führt über die Einzelbilder hinaus zur Erkenntnis der Bewegung.

In dieser Bildserie registriert die Eule an jeweils gleichen Stelle einen Weidenzweig und in einigem Abstand einen Kothaufen. Unbewegtes ist uninteressant. Ein kleines Ding aber befindet sich erst auf dem Zweig, dann etwas davon entfernt, und auf den nächsten Bildern näher und näher am Haufen. Sich bewegende kleine Dinge sind spannend, denn sie schmecken oft gut.

Diese Interpretation ordentlich abgelegter Bilder wurde längst Routine; das Erleben der Welt ist inzwischen dynamisch. Jetzt kommt das Neue: Durch gedankliche Fortführung der Bildserie entsteht im Kopf unseres Jägers ein Bild, das es in der Umwelt noch gar nicht gibt: Der Falter sitzt auf dem Kot.

Im Vorgriff auf die weitere Bewegung, deren Prinzip erkannt wurde, fliegt die Eule nicht dahin, wo der Falter gerade ist, jedoch bei der Ankunft des Jägers nicht mehr sein wird, sondern dahin, wo er sich – in der Zukunft! – befinden wird.«

»Armer Schmetterling.«

»Ein frühes Opfer der Planung. Aber ich hoffe, es wurde zu deinem Verständnis gebracht.«

»Ja, ich blicke es: Sinnliche Erlebnisse der Gegenwart werden in Gedankenketten als Vergangenheit abgelegt, verglichen, dadurch Veränderungen erkannt und als Zukunft weiter gedacht.«

»Sehr gut! Zeit ist ein Hilfsmittel, ein Werkzeug, genauer gesagt, ein Denkzeug. Somit verwundert es nicht, dass man den Umgang damit lernen muss. Kinder sind zunächst unfähig, zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden, sprechen anfänglich ohne die Zeitformen, tun sich noch lange mit Begriffen für die Zukunft schwer.«

»Ehrlich gesagt, ich tu mich derzeit mit der Gegenwart schwer.«

»Dann machen wir jetzt eine Pause.«

»Nicht Schluss?«

»Ist die Perlenkette der Zeit geschlossen, dann wird dieser ja doch wieder Anfang sein.«