Erstes Kapitel

1.1 Ein Fall und die Folgen

»Nein, nein, nein!«, schreit sie im Sturz, im endlosen Fall, den kein Armrudern bremst. Ein Schlag gegen die Hand: Schmerz, Erwachen, Angstschweiß.

An Wiedereinschlafen ist nicht mehr zu denken, dafür sitzt die Beklemmung zu tief. Zudem dieses Klappern, das nicht geträumt sein kann. Ach, Kuschel! Iris knipst das Licht an, nimmt das Meerschweinchen aus dem Stall, um ihre Angst wegzustreicheln. Ob so ein Tier auch träumt und Angst hat? Richtige Angst, nicht nur Erschrecken? Sogar die vor dem Tod? Das Mädchen denkt darüber nach, vermutet, dass man sich nicht vor etwas fürchten kann, was man noch nie erlebt hat und wovon ein Tier nichts wissen kann? »Du hast es gut«, flüstert Iris der Meerschweinchendame ins Ohr und streichelt sie sanft.

Zehn nach Fünf, liest sie auf der Uhr. Noch eine Stunde bis zum Aufstehen. Blöde Schule! An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Sie greift zu ihrem aktuellen Schmöker. Darin fürchtet sich dieser Zweiblum nie. Er läuft als Tourist auf der Scheibenwelt herum, findet alles toll und besteht locker die irrsten Abenteuer, weil er nie eine Gefahr sieht. Dagegen ist sein Freund Rincewind ein echter Feigling. Und Cohan, der alt gewordene Barbar, bewältigt seine Angst, weil er Heldentaten vollbringen muss.

Typisch die Szene, die sie gerade liest: Die Druiden wollen ein Mädchen opfern. Zweiblum tritt wie selbstverständlich in den Kreis der Priester und macht sie in aller Höflichkeit darauf aufmerksam, dass man den Göttern auch Beeren und Nüsse anbieten könne. Cohan dagegen sondiert die Lage und entwickelt seinen Plan (mangels Zähnen etwas undeutlich): „In Tempel ftürmen, die Priefter erledigen, Gold ftehlen, Mädchen retten und abhauen.“ Rincewind antwortet: „Ich schlage vor, wir beschränken uns auf den letzten Punkt.“

Die Umstände, denkt Iris, sind für alle gleich, ihre Empfindungen aber völlig verschieden. Angst ist nicht wie Durst, hängt wohl von der Einstellung ab. Vielleicht auch von dem, was man Bewusstsein nennt. Das besitzen, so hieß es in der Schule, nur Menschen. Aber ob das stimmt? Lehrer reden zwar klug daher, wissen jedoch längst nicht alles. Bestimmt hat Kuschel ein Bewusstsein, so klug wie sie ist!

Soll sie ihren Vater fragen? Der liest ja sogar Bücher über Philosophie. Aber nein, lieber nicht; denn eigentlich spricht sie nie richtig mit ihm. Höchstens mal über Computer. Als Fünfzehnjährige mit dem Vater zu reden, ist verdammt schwer; noch dazu über Angst.
Warum auch? Der Traum ist vorbei. Zudem sind, wie üblich, noch nicht alle Hausaufgaben gemacht. Fünfzehn Minuten dafür, statt zu frühstücken, müssen reichen.

Am Abend nahm Iris eines ihrer Dauerbäder, die der Vater nicht schätzt: wegen Wasser- und Energieverbrauch, Kosten und Umweltschutz. Duschen soll sie, als ob das ein Genuss wäre! Er ist eben ein Grüner.

Nach dem Bad verspürte sie Hunger, machte sich auf zum Kühlschrank, nahm Käse und Wurst heraus. Dann dachte sie an die letzte Nacht und daran, dass ihre Mutter schon mehrfach gesagt hatte, vom späten Essen bekäme man schlechte Träume. So ließ sie alles stehen und verzog sich auf ihr Zimmer.

Noch bevor sie es erreichte, hörte sie den Vater aus dem Wohnzimmer kommen und war sich sicher, dass er die Lebensmittel in den Kühlschrank zurückstellen, das Geschirr in die Spülmaschine geben und das Küchenlicht löschen würde. Sie wusste ja, dass er die Unordnung hasst, die sie ständig verbreitet. Und eigentlich hatte sie auch alles wegräumen wollen; ganz bestimmt!

Im Zimmer lief der Computer. Rasch hatte Iris das Textprogramm geladen, um weiter an der begonnenen Weltraumstory zu schreiben. Denn liebend gern dachte sie sich Geschichten aus. Noch den Kopfhörer aufgesetzt, dann füllte Rock die Ohren und Captain Picard von der Enterprise ihre Fantasie.

Plötzlich hörte sie eine Stimme, die „bewusst sein“ sagte, blickte zur Zimmertür, doch war allein. Sollte etwas in die Musikaufnahme geraten sein? Rasch zurückgespult, konzentriert gelauscht. Nein, nichts! Wohl nur Einbildung. Sicher war sie zu müde.

Kein Traum schreckte in der Nacht, keine mysteriöse Stimme störte den Tag. Der Schulmorgen verlief ätzend wie immer, am Nachmittag nahm Iris sich wieder die Story vor. Elena, ihre jüngere und selbstverständlich viel ordentlichere Schwester, würde abends aus der Kur zurückkommen. Dann wollte sie ihr die neue Geschichte zu lesen geben. Auch Elena schrieb begeistert und will Schriftstellerin werden. Wie in einem kleinen Wettstreit tauschten sie die Werke ihrer Fantasien aus.

Mit Fantasie, schoss es ihr durch den Kopf, hat wahrscheinlich auch die Angst zu tun. Vielleicht empfindet man die umso mehr, je größere Vorstellungskraft man besitzt. In ihrer Fantasie kann sie ganze Universen entstehen lassen, die von der Enterprise erforscht werden. Es ist toll, denken zu können! Man kann sogar darüber nachdenken, dass man denkt.

Aber deswegen muss man nicht herumgrübeln. Das tat sie doch eigentlich nie. War der Angstraum schuld? Oder diese komische Stimme? Bewusstsein? Nein, die Betonung war anders. Zwei Wörter: bewusst sein. Egal! Es war nur Einbildung. Einbildung wie die Figuren ihrer Geschichten. Alles nur Fantasie. … Alles nur Fantasie! Iris erschrak bei diesem Gedanken.

Quatsch, Sie ist real! Wenn sie jedoch – nur mal angenommen – nicht wirklich wäre, lediglich Figur in einer Geschichte, was dann? Ist das nicht ein Thema in diesem Philosophie-Roman, von dem ihr Vater schwärmte und den sie lesen sollte? Wie hieß er noch? Irgendwas mit einem Mädchennamen. Ach egal, vergiss es! Als ob sie sich für Philosophiequatsch interessierte. Das ist ja schlimmer als Schule!

Doch Fantasie ist großartig. In der Vorstellung ist alles möglich. Das ist ja das Spannende. Scheinbar Unmögliches wird wie wirklich und manchmal deutlicher als das Zimmer ringsum oder das Scharren von Kuschel. Aber Kuschel existiert nicht nur in ihrem Kopf. Auch der Computer ist da. Und Elena.

Nun, Elena, der eigentlich das Meerschweinchen gehört, das sie während der langen Krankheit im letzten Jahr getröstet hatte, war nicht wirklich da. Noch nicht. Doch sobald sie aus der Kur zurückkam. Es gibt sie!

Aber wäre es hier und jetzt anders, wenn sie sich nur eine Schwester ausgedacht hätte, mit der sie Geschichten austauscht, Rollenspiele macht, vor dem Fernseher hängt? »Oh Mann, ich glaub, ich spinne!«, sagte Iris laut.

Jetzt endlich auf die Story konzentriert! Oder soll sie eine neue beginnen über ein kleines Pelztier, das superintelligent ist, und zusammen mit Data, dem perfekten Roboter in Menschengestalt, die Geheimnisse der Realität und der Angst löst. Ja, das wäre cool.
„Der Roboter kam herein und brach in Tränen aus“, tippte Iris auf der Tastatur und stockte schon. Eine weinende Maschine? Woher sollten Gefühle und Tränen kommen? Löschtaste. Neu: „Data kam herein und sah aus, als würde er in Tränen ausbrechen, wenn er es könnte.“

Das war besser! Eine Maschine hat keine Gefühle und kann schon deswegen nicht weinen, weil man dafür Drüsen braucht, die einem Roboter wohl kaum eingebaut wurden. Das wäre albern. So wie früher die alte Puppe ihrer Mutter, die bei richtiger Bewegung einen Laut wie „Mama“ von sich gab und scheinbar Tränen vergoss, wenn man auf eine Stelle am Nacken drückte. Das war total blöde. Zudem litt das gute Stück unter verklebten Augen und stank, seit sie versuchsweise den kleinen Tank mit Milch befüllt hatte.

Im Grunde muss das Fantastische möglich werden können, wenn es nicht absurd ist. Ins Unmögliche darf man sich nicht verirren. Doch schon wieder verirrten sich ihre Gedanken, tanzten die Wörter Angst, Möglichkeit, Fantasie, Realität in ihrem Kopf, hüpften wirr umher, umkreisten den Begriff Bewusstsein. Zwecklos, sich auf die Story konzentrieren zu wollen. Warum nur war plötzlich alles so verdreht?

Entschlossen tat Iris, was sonst nicht ihre Art war, allenfalls die ihrer Schwester: Sie ging zum Bücherregal im Wohnzimmer und schlug im Lexikon nach, um Ordnung in diesen Begriffstanz zu bringen. Doch welche Enttäuschung! Unter Bewusstsein las sie: „Psychologisch der Zustand des Habens von Erlebnissen; unterschieden in gegenständl. B. u. Ich-B., d.h. das Wissen um mich selbst als Subjekt meiner Erlebnisse“. Mann, was für ein geschraubter Stuss! Ein Erlebnis hatte sie bestimmt; das von Frust.

Dennoch schlug sie noch unter Angst nach und las: „[von lat. angustus], stark unlustgetönter →Affekt“. Und wie unlustgetönt sie nun war! Nein, diese Wortakrobatik, diese Abkürzungen und Verweise, das ist nicht ihr Ding. Das Lexikon blieb liegen, während sie selbst zur Küche trottete, um im Schrank nach Süßem als Trost zu forschen.

Wieder im eigenen Zimmer angekommen, stutzte sie. Ein großer Schriftzug bedeckte den Bildschirm: „Ich denke, also bin ich“. Ach, wieder einer der Scherze ihres Vaters! Der schrieb gelegentlich schon mal in die Startroutine so tolle Sprüche wie: „Wenn du nicht bald das Zimmer aufräumst, dann explodiere ich – dein Computer“. Das sollte wohl Erziehung sein.

Aber erstens hatte er so etwas lange nicht mehr getan, und zweitens passte dieser Spruch viel zu gut zu ihrem Problem, von dem der Erziehungsberechtigte nichts wissen konnte. Oder doch? Sie hatte das Lexikon offen liegen gelassen. Wenn er die aufgeschlagene Seite mit „Bewusstsein“ gesehen hatte, während sie in der Küche war, dann …

Schnell zurück ins Wohnzimmer. Ja, da lag das Lexikon noch aufgeschlagen. Jedoch beim Begriff Angst. Sicherheitshalber ging sie dennoch zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Unbelegt. Er war nicht zuhause.