Auszug aus Kapitel „Warten auf gestern“
Um sich abzulenken, hätte Iris gerne im Wohnzimmer mit einer Tüte Chips auf dem Boden vor dem Fernseher gehockt. Doch das Gerät war vom Vater belegt. Als ob Nachrichten wichtig wären? Täglich Attentate, Kriege, Schwafelköpfe und Sport. Dass er damit seine Zeit vertut! Und sie hatte tatsächlich geglaubt, er sei Heureka. Lächerlich! Da sind selbst Zeitreisen realistischer.
Sich in die Badewanne zu legen, wäre unzeitgemäß früh. Lieber wollte sie Kuschel streicheln, vielleicht am PC spielen. Nein, besser Sofie weiter lesen. Bestimmt sind in der Story noch Hinweise zu finden. Sie wird nicht aufgeben, auch wenn die Vater-Theorie über den Haufen geworfen ist, und die Erklärung einer Zeitreise überhaupt nicht begeistern kann. Dabei hatte sie sich die bisher so toll ausgemalt.
Sie las die Szene in der Majorshütte. Es wunderte sie nicht, dass Sofie dem geheimnisvollen Philosophen nachschnüffelt. Das würde jeder vernünftige Mensch tun. Dann kam das Erlebnis mit dem Spiegel, aus dem Sofies Bild dieser zuzwinkert. Verdammt, das war doch wieder eine eindeutige Parallele zur Spiegelung der beiden Internet-Schwestern!
Gespannt las sie weiter und erfuhr einiges über Aristoteles. Es gefiel ihr, dass der nicht so ein verschraubter Hirnakrobat wie Platon war. Es ist doch einleuchtender, dass etwas erst im Bewusstsein ist, nachdem man es mit den Sinnen erfasst hat, als Platon zu glauben, der behauptet, alle Erkenntnisse wären Erinnerungen an das vollkommene Jenseits, die die Seele mitbringt. Alles Irdische sei nur Abklatsch übernatürlicher Ideen.
Iris will keine Kopie von etwas aus einer anderen Welt sein! Auch will sie nicht, wie es am Computer schien, dass es eine Kopie von ihr gibt.
»Ich glaub‘, ich werd‘ nicht mehr!«, entfuhr es ihr, als Sofie – bloß weil Aristoteles die Dinge der Welt systematisch ordnete – ihr Zimmer aufräumt. Dann pfiff Iris durch die Zähne. Fand das Sofiemädel doch beim Aufräumen eine geheimnisvolle Socke. Könnte das ein Hinweis sein? Sollte sie selbst sich vielleicht auch etwas im eigenen Zimmer umsehen? Umsehen heißt ja schließlich nicht aufräumen.
Die Suchaktion erbrachte manch interessanten Fund an vermissten, teils vergessenen Dingen, doch nichts, was mit den jüngsten Erlebnissen in Verbindung zu bringen war. So griff Iris enttäuscht wieder zum Buch.
Darin fand die Heldin eine Geburtstagskarte an Hilde und stellte erstaunt fest, dass diese nicht nur wie sie selbst am 15. Juni Geburtstag hat, sondern auch, dass die aus dem Libanon kommende Karte dort am gleichen Tag abgestempelt worden war! Iris‘ Erschrecken war größer als Sofies. Dieser verdammte 15. Juni!