Auszug aus Kapitell „Im Band der Möglichkeiten“

Beim Essen meinte Anele: »Wir haben Sofies Welt links liegen lassen, obwohl wir im Turmzimmer wie in der Majorshütte hausen, und das Manuskript Sofies Spiegelwelt heißt. Vielleicht sollten wir erst den Roman aufmerksam zu Ende lesen.«

Siri dachte nach: »Du könntest recht haben. Was sich spiegelt, ist real, die Spiegelung nur Abbild. Man sollte wohl erst das Original studieren. Das Manuskript könnte sogar eine Falschspur sein, um uns abzulenken.«

»Es könnte sein. Möglich! Wir können weiter Sofie lesen, uns das Manuskript im Turm reinziehen oder alles hinschmeißen: möglich, möglich, möglich! Nie zuvor war dieses Wort so bewusst und beängstigend. Verliert man sich nicht in Möglichkeiten? Ist ein vorgegebener Weg nicht viel sicherer? Ach, wie einfach war alles bis vorgestern. Einfach, weil wir vom Meister geleitet, von täglicher Disziplin beherrscht wurden. Nun sind wir scheinbar frei und verlieren uns.«

»Ach was! Wir haben ein Ziel: die Lösung der Rätsel. Und wir können uns nicht allzu sehr verlaufen«, dämpft Siri die aufkommende Verzweiflung der Schwester: »Du kennst doch Wendur: Er gibt Freiheiten, legt aber zugleich Spuren, denen wir folgen sollen, streut Hinweise, die wir finden müssen. Letztlich weist er doch den Weg.«

Anele bleibt mutlos: »Die Hinweise, die er streut, scheinen mir wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel. Will man ihnen folgen, so sind sie von Vögeln gefressen. Denn kaum versucht man es mit Vernunft, scheint alles unvernünftig. Fragt man nach Notwendigkeit, stößt man auf Zufall. Will man sich selbst finden, so erscheinen Parallelschwestern. Wenn das der Möglichkeitsraum ist, dann verirrt man sich zu leicht in ihm.«